Der Wahnsinn hat Melodie (German)

Mit dem neuen Album «Drukqs» ist Aphex Twin wieder eine geniale Missbildung gelungen

Aphex Twin ist keine Frau mehr. Er ist jetzt ein Schwein. In der Musikzeitschrift NME zeigte er diese Woche sein zerquetschtes rosarotes Gesicht. Vor zwei Jahren noch hatte er auf der CD «Windowlicker» vom halbnackten Körper einer Bodybuilderin herab gegrinst. Und im Video «Come To Daddy» von 1997, dem beklemmendsten Clip seit Michael Jacksons «Thriller», verfolgt er - zu einer Horde kleiner Mädchen mutiert und vervielfältigt - eine zu Tode verängstigte alte Frau. Vieles an Richard James, so sein bürgerlicher Name, deutet auf ein krankes Hirn in einem hässlichen Körper. Doch in Wahrheit sieht der Dreissigjährige aus wie Jesus, mit seinem schulterlangen Haar und dem korrekt gestutzen Bart. Der angebliche Panzerfahrer und ehemalige Banktresorbewohner aus Cornwall verwendet auf sein Äusseres nur so viel Mühe, um davon abzulenken. Denn schliesslich geht es nur um die Musik. Und diese ist nicht nur verstörend, sondern auch wunderschön.

Für die «vampirische» Madonna mochte er nicht Remixer sein

Aphex Twin ist die innovativste und einflussreichste Figur der elektronischen Popszene. Obschon die einzige Konstante in der musikalischen Karriere seine Unberechenbarkeit ist. Vor zehn Jahren verlieh er nicht nur dem Bum-bum-Techno Intelligenz, sondern versöhnte auch den scharfen Acid mit den weichen Klängen des Ambient. 1992 erschien das bahnbrechende Album «Selected Ambient Works 85-92», das die Stilbezeichnung Electronic Listening begründete. Mit der Fortsetzung, «Selected Ambient Works Volume II», etablierte sich Aphex Twin 1994 als Meister des meditativen Kuscheltechno. Als er ein Jahr später die Platte «Ventolin» ablieferte, die seine brutale Phase von «Analogue Bubblebath» wieder aufnahm (Musik, die er mit 14 Jahren gemacht hatte), war sein guter Ruf als «Mozart des Techno» dahin. Wann immer heute ein Fernsehsender eine Operation oder eine Vergewaltigung zeigt, wird Musik von Aphex Twin daruntergelegt.
Das hinderte Madonna allerdings nicht daran, ihn als Remixer zu umwerben, doch empfand er ihr Interesse als zu «vampirisch» und sagte ab. Lieber versteckt er sich weiterhin hinter unzähligen Pseudonymen - AFX, Polygon Window, Caustic Window, Blue Calx, The Dice Man, GAK, Power-Pill, Q-Chastic - und veröffentlicht auf seinem eigenen Label Rephlex Platten, die sich ganz ohne Marketingmassnahmen in grossen Stückzahlen verkaufen. Der Millionär Aphex Twin steht ebenso in der Tradition von Stockhausen, John Cage und Phil Glass wie von Brian Eno und Kraftwerk. Mit den von Chris Cunningham produzierten Videoclips «Come To Daddy» und «Windowlicker» (Letzterer eine böse Parodie auf sexgeile Hip-Hop-Videos) setzte er auch auf MTV Massstäbe. Er ist Avantgardekomponist und Popstar in einem.
Nur ein Goldesel ist er nicht. Seine Plattenfirma Warp könnte mit ihm viel Geld verdienen, wenn er bereit wäre, mehr als eine Handvoll Interviews zu geben. Sein letzter Liveauftritt liegt vier Jahre zurück, sein letztes Album fünf Jahre. Die Herausgabe des neuen Albums am 22. Oktober verdankt sich einem Zufall: In einem Flugzeug hatte Aphex Twin seinen MP3-Spieler mit 280 unveröffentlichten Tracks liegen gelassen. Um deren illegaler Verbreitung im Internet zuvorzukommen, beschloss er, einen Teil der Stücke, die er glücklicherweise kopiert hatte, zu veröffentlichen. 30 davon sind nun auf zwei CDs und auf über 100 Minuten verteilt. «Drukqs», der Titel des Albums, deutet an, dass Aphex Twin nicht pflegeleichter geworden ist.
«Drukqs» hat angeblich nichts mit Drogen («drugs») zu tun, hingegen kann das Album eine durchaus narkotische und halluzinogene Wirkung haben. Es empfiehlt sich, die Platte in Ruhe und konzentriert anzuhören; als Hintergrund eignet sie sich nicht und wäre wohl auch nicht zu ertragen. Bis auf das «Happy Birthday» seiner Eltern, die auf den Beantworter singen, fehlen Gesangspartien. Wenn Stimmen zu hören sind, dann nur bis zur Unkenntlichkeit verfremdet; ihren Sinn zu ergründen, ist dann eine Aufgabe für Fansites wie www.theaphextwin.com oder www.joyrex.com.
Hinter den unaussprechlichen Tracks («Jynweythek» oder «Gwely Mernans» erinnern allenfalls an keltische Vornamen) sind gängige musikalische Genres nur noch als Überbleibsel identifizierbar. Die Übertreibung ist Aphex Twins Handschrift. Das Schnelle wird noch schneller, das Harte noch härter, das Rhythmische noch rhythmischer, fast arhythmisch oder auch hyperrhythmisch. Breakbeats etwa werden seziert und zu orkanartigen Wirbeln wieder zusammengesetzt, die wie durch ein Wunder den Takt halten («Vordhosbn», «Cock/Ver 10»). «Omgyjya-Switch» klingt wie eine Musikdose, die in einer aktivierten Folterkammer aufgezogen und abgespielt wurde. Elektro- und Garagesequenzen erfahren eine alptraumhafte Verzerrung. Doch wer jetzt Freejazz denkt oder Noise, liegt falsch. Zufall und Chaos haben hier nichts verloren. Die abstrakten Missbildungen erhalten bei Aphex Twin immer eine Stimmung, einen Sinn. Melodien tauchen auf, wo man sie nicht erwarten würde. Melancholische Klänge sorgen für einen harmonischen Kontrast zum Horror. Und zahlreiche Klavierintermezzi, die an Erik Satie und Debussy erinnern, lassen einen verschnaufen.

Extrem und originell verpackt er Wut, Angst und Zärtlichkeit

Damit hebt sich Aphex Twin von den unzähligen Computertüftlern ohne Gefühl und musikalische Aussage himmelweit ab. Seine radikale Umdeutung von Techno, House, Drum 'n' Bass und Ambient ist nicht nur originell und extrem, sondern auch intensiv. Alpträume, Ängste, Wut, Kraft und Zärtlichkeit sind darin verpackt. Seine Fantasie ist manchmal unheimlich, aber man versteht sie.

Das Album «Drukqs» erscheint am 22. Oktober

Written by CHRISTIAN HUBSCHMID from sonntagszeitung.ch